Sommerabend auf Nikolskoe am 3. August 2023
Ein Austausch von Stephan-Andreas Casdorff, Herausgeber des TAGESSPIEGEL, mit Prof. Oliver Günther, Ph.D., Präsident der Universität Potsdam
Zum ersten Mal seit Beginn der sommerlichen Veranstaltungsreihe wurden die Gäste von dicken schwarzen Wolken und einem kräftigen Schauer empfangen – Vorboten des schwierigen Themas, das für diesen Abend angekündigt war?
Stephan-Andreas Casdorff begrüßte sehr freundlich die zahlreich erschienenen Gäste und bedankte sich für ihr Kommen – das alles überraschenderweise auf Russisch, sogleich verbunden mit der Frage, ob das heutzutage noch gehe. Und damit waren wir schon mitten im Thema. Darf man noch die Bücher von J.K. Rowling lesen (transmenschenfeindliche Aussagen) oder die von Charles Dickens (antisemitische Elemente), sollte Pippi Langstrumpf mit dem „Negerkönig“ umgeschrieben werden? Oder Nabokovs „Lolita“ im Literaturstudium? Ist es richtig, als unerträglich empfundene Aussagen (und am besten gleich auch die Personen, die sie tätigen) zu boykottieren und öffentlich zu ächten? Und wie steht es um die Diskursfreiheit auf dem Campus?
Daraus ergab sich viel Diskussionsstoff, von Casdorff pointiert angestoßen und immer wieder scharfzüngig nachgefragt. Oliver Günther bemühte sich um differenzierte Antworten, auf Basis seiner ganz persönlichen Überzeugungen, aber auch der konkreten Erfahrungen als Universitätsmanager und seiner Vorstellung davon, was die Aufgaben einer Hochschule sind und wie man ihnen im akademischen Alltag gerecht werden sollte. Die stark gestiegene Sensibilität für Unangebrachtes und (mal bewusst und häufig auch unbewusst) Verletzendes sei grundsätzlich positiv zu bewerten. Es sei in der Tat ein Fortschritt, dass bestimmte Begriffe, die vor Jahrzehnten noch völlig unreflektiert verwendet wurden, heute nicht mehr als akzeptabel angesehen werden – diese Fortschritte gelte es (auch vor dem Hintergrund populistischer Gegenbewegungen) zu sichern. Leider gebe es aber inzwischen viele Beispiele – sowohl hier, auch an der Uni Potsdam, aber noch viel mehr z.B. in den U.S.A. – wo im Sinne einer „cancel culture“ der eigentlich gebotene Meinungsstreit gar nicht mehr stattfinden könne, weil Begriffe geächtet und Diskussionsteilnehmer ausgeschlossen werden, moralisierende Haltung vor begründete Meinungen und Fakten gestellt und letztlich der Intoleranz Vorschub geleistet werde. Das geschehe zwar oft aus guten Absichten heraus, zerstöre aber die Basis für den letztlich unverzichtbaren offenen akademischen Diskurs. Dieser setze nun einmal offene Meinungsäußerung, auch scharfe (wenn auch sachliche) Auseinandersetzung voraus. Gerade das dürfe nicht durch eine moralische Keule verhindert werden.
Aber wo sind die Grenzen und was können Universitätsleitung und Hochschulmitglieder tun, damit sie eingehalten werden, fragte Casdorff. Günther legt Wert darauf, dass auf dem Campus alles gesagt werden dürfe, was nicht verfassungsfeindlich, sittenwidrig, bewusst ehrabschneidend oder wissenschaftlich völlig unhaltbar sei. Naturgemäß könne das nicht von der Universitätsleitung von oben durchgesetzt werden, sondern die Debatten würden nun einmal dezentral geführt und alle Beteiligten sollten sich darum eine im Einzelfall sachgerechte Abwägung bemühen. Die Grenzen seien ohnehin nicht immer klar, sondern es gelte, eine im Einzelfall sachgerechte Abwägung vorzunehmen – so anstrengend das auch sein könne. Gerade zum Stichwort „trigger warnings“ warnte er davor, die Studierenden zu sehr vor für sie vielleicht unangenehmen Ansichten und Themen schützen zu wollen. Es sei doch ein Kernbestand der akademischen Ausbildung, mit der Komplexität der Welt und der Relativität der Wissenschaft umgehen zu lernen. „Trigger warnings“ erzeugten den Eindruck, dass die Welt viel einfacher sei, als es der Wirklichkeit entspreche. Das bringe sogar die Gefahr mit sich, dass erstklassige Lehre und Forschung ins Hintertreffen geraten könnten. Er wünsche sich mehr Dialog, nicht das Ausschalten von unbequemen Diskussionen. In einer toleranten Gesellschaft müssten sich die Universitäten im Zweifel hinter die Meinungsfreiheit stellen. Er verwies auf den Voltaire zugeschriebenen Ausspruch „Ich teile Ihre Meinung zwar nicht, würde aber mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern können“. Manchmal erschienen ihm die Studierenden autoritärer als er selbst.
Angeregt durch Casdorffs Fragen wurden auch verwandte Themen wie das Gendern, der Umgang mit der Informationsflut, die Auswirkungen der Kommunikation über die (sogenannten) sozialen Medien, aber auch den Zusammenhang von Wissenschaft und Politik -durchaus kontrovers – diskutiert.
Mit dem Urteil der Engel über Faust „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ ordnete Stephan-Andreas Casdorff den Austausch als Werkstattgespräch ein, so dass auch Fragen offenbleiben dürften, und schloss unter großem Beifall die Diskussion. Der Himmel riss auf, und die Teilnehmer konnten – wie es der Tradition der Sommerabende auf Nikolskoe entspricht – das Gespräch mit dem Blick von St. Peter und Paul auf die Abendsonne über der Havel bei einer kleinen Stärkung fortsetzen.
Text: Dr. Hans-Michael Giesen