Sommerabend auf Nikolskoe am 24. August 2022

Sommerabend auf Nikolskoe am 24. August 2022

ARD-Fernsehmoderator Sascha Hingst im Gespräch mit Autor, Literatur- und Kulturpreisträger Wladimir Kaminer

„Angst ist kein Friedensstifter – Wladimir Kaminer über den Krieg, die Freiheit und seine Kunst

St. Peter und Paul bot mit ihrer Geschichte deutsch-russischer Beziehungen einen passenden Raum für ein überaus aktuelles Gespräch, das Sascha Hingst, Jurist und das Gesicht der rbb-Abendschau, mit dem Ehrengast Wladimir Kaminer, Autor, Literatur- und Kulturpreisträger, über den Krieg, die Freiheit und seine Kunst gewohnt professionell führte – in der wiederum gefüllten Kirche bei hochsommerlichen Temperaturen.


Nein, bekennt Wladimir Kaminer auf die journalistische Eingangsfrage, auch er duscht nicht mehr jeden Tag, seine Nachbarn in Brandenburg heizen schon mit Holz und allem was brennt, und die russische Propaganda fragt, ob wir in der EU bereits frieren. So beginnt er seine Schilderung der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen Russlands zu einem autoritären Unterdrückungsstaat. Russland dreht deshalb Werbespots über Europas Zukunftsängste, nur um die eigene Bevölkerung bei Laune zu halten. Die Ausrichtung aller Institutionen auf imperialistische Ziele habe zur Folge, dass ein Überleben der aktuellen Regierung nur durch Unterdrückung und kriegerischen Aktivitäten möglich sei – Machterhalt durch Krieg! War Deutschland zu naiv und pazifistisch, fragt Sascha Hingst. Der Krieg war von langer Hand geplant, antwortet Wladimir Kaminer, was niemand wahrhaben wollte. Mit dem Ukraine Krieg steht und fällt Putins Macht. Umfragen in Russland zeigten, 65% sind für sofortige Bombardierung Kiews, aber ebenso viele für bedingungslosen Frieden – sofort. Die Folge sei eine beispiellose Auswanderung aus Russland von geschätzt 2,8 Mio. vor allem junger Leute u.a. nach Armenien und Georgien aus Angst um ihr Leben, eine Migration der Ohnmacht. Freiheit gebe es für russische Journalisten und Kulturschaffende aktuell nur im benachbarten Ausland oder im Westen. Für diese sei Berlin ein Magnet, noch nie war die Vielfalt russischer Kultur in Deutschland so groß! Einige erhofften sich einen von der EU anerkannten „Gut-Russen-Pass“! Ängstliche Anpassung an die russische Aggressionspolitik hätte nur ihre Fortsetzung zur Folge. Problem des russischen Machtapparates: er hat Waffen, aber keine motivierten Soldaten. Sascha Hingst motiviert Wladimir Kaminer zu einer Empfehlung für Deutschland: die gemeinsame europäische Unterstützung für die Ukraine darf nicht abbrechen! Und gleichzeitig mit Russland reden, nicht unbedingt nur mit der Regierung. Seine Zukunftsvision für Russland: der Krieg könne nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden, sondern nur in den Köpfen von 145 Millionen Russen. Angst vor einer apokalyptischen Entwicklung sei nicht berechtigt, eher Hoffnung! So ist denn die Spaltung der Welt auch Kaminers Thema – gerade in seinem neuen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter“, auf das ihn Moderator Hingst bittet uns einzustimmen, bevor es jetzt im Herbst erscheint. In den Augen ihrer Kinder, die sich um eine ökologisch gendergerechte Zukunft kümmern, Sohn Sebastian als veganer Koch, die Tochter Genderstudies studiert, macht die 90-jährige Oma alles falsch, wie soll sie dann die Welt jetzt retten? Kaminer versteht es dabei, sich nicht über andere lustig zu machen, sondern alle sympathisch zu umarmen. Sein optimistischer Ausblick: „wir werden das überstehen, ich schreibe lustige Bücher!“ In diesem besten Sinne warb er um Spenden für die interdisziplinäre Kunst, Politik- und Kulturplattform PANDA, wo tolle Menschen Flüchtlingen aus der Ukraine, insbesondere Kindern, helfen.


So von Sascha Hingst treffend angeregt und von Wladimir Kaminer in den Sorgen um Russland und die Ukraine wenigstens für diesen Abend etwas beruhigt, unterhaltsam und zugleich ernst, erwartete uns nach diesem hochaktuellen Gespräch beim Verlassen von St. Peter und Paul auf Nikolskoe ein klarer roter Sonnenuntergang über der Havel – ein Zeichen?

Text: Birgit Schuseil, Klaus Bräunig