Sommerabend auf Nikolskoe am 11. September 2025
ARD Moderator Sascha Hingst im Gespräch mit Botschafter a.D. Dr. Peter Wittig über
„Europa geopolitisch herausgefordert oder überfordert?“
Wer ist denn Trump nun wirklich? Mit dem Elefanten im Raum, wie er es nannte, führte ARD-Moderator Sascha Hingst direkt in medias res des „Europa – geopolitisch herausgefordert oder überfordert?“ titulierten Abends. Wollte das Freundeskreis-ungewöhnlich „Schauer“-liche Regenwetter dem Ernst der Fragestellung entsprechen, so erwies sich Ehrengast Botschafter a.D. Dr. Peter Wittig erwartungsgemäß nicht herausgefordert – im Gegenteil: Geopolitische Risiken auch für Unternehmen sind sein Arbeitsschwerpunkt, wie die Vorsitzende Anne-Ruth Moltmann-Willisch in der voll besetzten Kirche den langjährigen Spitzendiplomaten in Ihrer Begrüßung vorstellte. Fünfmal vertrat er Deutschland als Botschafter, u.a. bei den UN, in Washington und beim Brexit in London. Als Senior Advisor Global Affairs der SCHAEFFLER Gruppe, Publizist, Redner und Panelist bleibt er international aktiv. 2016 hatte er beim US-Besuch von Kanzlerin Angela Merkel den US-Präsidenten als ebenso leutselig wie narzisstisch persönlich kennengelernt. Anders als Friedrich Merz konnte sie keine „chemistry“ zu Trump entwickeln, der Frauen mit Intellekt nicht mag. Anders auch als die chaotisch erste verläuft diese 2. Amtszeit, in der ihn nur 100% Loyale umgeben, er Unberechenbarkeit als Strategie gegenüber Feind und Freund einsetzt und es für Wittig dennoch unverständlich bleibt, warum die Republikaner ihm sklavisch folgen. Ernüchternd deutlich seine Botschaften, als Sascha Hingst die Herausforderungen in der Breite skizziert: gibt es die starke Allianz mit den USA noch, wofür brauchen wir die USA dann noch, soll die EU gegenhalten? Die alten Zeiten des Transatlantischen Verhältnisses sind für Wittig vorbei, der Multilateralismus wird zerstört, eine Abwendung von Europa und ökonomischer Nationalismus sind Gemeingut auch der Demokraten in den USA, die die Lasten für Bündnispartner nicht mehr zu tragen bereit sind. Europa bleibt von den USA noch abhängig in der Sicherheit, verfügt als Staatengemeinschaft über keine geopolitische Macht, muss aber von Deutschland mehr geführt werden, einseitige Abhängigkeiten gegenüber China und USA vermeiden und in eigene hard power investieren – was Kanzler Merz erkannt hat. Der Frieden in der Ukraine ist noch sehr weit weg, lautet die Prognose auf des Moderators Schlussfrage, warum wir Wahrheiten nicht wahrhaben wollen. „Wir alle haben die Schrift an der Wand nicht gelesen“, formulierte der das interessierte Auditorium überaus überzeugende Diplomat. Denn schon Bush und Obama haben die Erhöhung unserer Verteidigungsausgaben gefordert, Trump sie aber mit einem Wutausbruch „bekommen“.
In diesen geopolitischen „insight“ anschließend einbezogen beteiligte sich das Publikum engagiert und steigerte den Abend mit seinen kenntnisreichen Fragen zu einer sehr angeregten Diskussionsveranstaltung: (Über)Leben die Demokraten noch? Wie können wir uns von China unabhängig machen und wird Putin den Westen vor 2029 militärisch testen, wie Militärs prognostizieren? Muss die deutsche Europapolitik nicht endlich eine neue Vision für die EU entwickeln? Peter Wittig und Sascha Hingst ließen nichts unbeantwortet. Ein Bündel von Gründen erklärt die Lage der Demokraten, das im vollkommen anderen US-Parteiensystem weder Parteichef, -Vorstand noch Landes- und Kreisvorsitzenden kennt, eher einer zersplitterten Sammlungsbewegung ähnelt und hoffentlich bei den Zwischenwahlen zumindest das House of Representatives zurückgewinnen kann. Wittig bestätigte Hingst’ Eindruck aus dessen jüngsten USA-Aufenthalt, dass die Amerikaner im Alltag kaum mehr außerhalb der eigenen vier Wände über Politik sprechen und sich von ihr abwenden. Die hohe Verschuldung gefährdet das Vertrauen in die Verlässlichkeit der USA. Wittigs Rat: die USA sind das weite große Amerika, weit mehr als ihr Präsident, ihre Gouverneure sollten wir Europäer pflegen. Der jüngste Aufmarsch der Autokraten in China war ein Fanal für ihr stärkeres Zusammenwachsen. Deutschland muss sich sukzessive weniger abhängig machen, Überkapazitäten nach Europa begrenzen und Rohstoffpartnerschaften eingehen. Putin wird weiter versuchen, die EU zu destabilisieren und zu testen, allein 5000 Drohnen produziert Russland monatlich. Der europapolitische Weg nach vorne gelingt nur über das faktische Machen, Dinge tun wie die Koalition der Willigen, einer Art Avantgarde. England wird so z.Zt. wieder näher an die EU herangeholt.
Von diesem besonderen Gespräch so klar geopolitisch orientiert, bedankten sich der Freundeskreis Nikolskoe und seine Gäste mit anhaltendem Applaus, klarte auch das Wetter auf und ließ bei Kerzenschein, Wein und Brezel die gewohnte Nachbereitung und den freundschaftlichen Ausklang dieses erfüllten Abends auf dem Vorplatz vor St. Peter & Paul entspannt zu.
Text: Klaus Bräunig
Fotos copyright: Sabine Diesselhorst und Anne-Ruth Moltmann-Willisch